Alone in the mountains – Day2/part II

Lausitzer Höhenweg – vom Eissee in den Krimmler Tauern nach Südtirol und zur Birnlücke

Vom Spiegel des Eissees aus, machte ich mich nach einer kurzen Stärkung wieder auf den Weg. Zuerst ging es leicht abwärts über sanfte Almwiesen, auf denen Schafe grasten, bevor der Pfad wieder anstieg zum Krimmler Tauern, wo sich der Übergang zwischen Österreich und Südtirol befand. Die Sonne hatte sich wieder zwischen den Wolken versteckt und Nebel zog das Windbachtal herauf. Im Nebel trauten sich die Berggeister näher an die Wanderer heran als sonst. Neugierig beobachteten sie die einsame Frau, die sich über Fels und Stein ihren Weg durch die Nebelschwaden bahnte. Ein Fuß vor den anderen.

Am Krimmler Tauern Übergang machte sie nicht Halt, zu viele Leute waren dort, zu viele neugierige Blicke in ihr sorgenvolles Gesicht. Schnell schritt sie weiter, hinunter und nach links, den Schildern folgend Richtung Birnlücke, weiter über den Lausitzer Höhenweg.

Ein altes Zollhaus ragte einsam am Beginn des Weges über das Ahrntal hinaus, mit leeren Fenstern in die Weite blickend, wie ein Verbindungsglied zwischen den Zeiten, aus der Vergangenheit zum Heute, ein Erinnerungsstück an längst vergessene Tage. Hinter dem Zollhaus schlängelte er sich fort, der Weg, über schroffe Felsplatten und schmale Pfade, unter dem gezackten Gebirgskamm entlang, weiter und immer weiter. Ein Fuß vor den anderen.

Ich verlor das Zeitgefühl. Ich spürte keinen Hunger, keinen Durst, keine Müdigkeit. Weiter, immer weiter. Ich wusste nicht, wie lange der Weg vor mir war, noch, ob ich es bis zur nächsten Hütte noch rechtzeitig schaffen würde. Aber ab jetzt führte auch kein Weg mehr zurück. Ab jetzt gab es nur noch den Pfad vor mir, dem ich folgen musste, wo auch immer er mich hin führte. Ein Fuß vor den anderen.

Und mitten im Gehen, als ich zu erschöpft war, um zu denken, zu fokussiert auf die Felsplatten und Steine vor mir, um noch eine kontrollierende Hand über alle Gefühle drüber zu halten, die ich davor nicht fühlen hatte wollen, da brach es endlich durch. Langsam begannen sie zu tropfen. Eine Träne nach der anderen. Und mit jeder Träne bahnte sich der Schmerz, den ich die Wochen davor von mir weg geschoben hatte, einen Weg in diese Welt. Ich sah zum Himmel hinauf. Welch Aberglaube! Und trotzdem. „Es ist nicht fair, es ist verdammt noch einmal nicht fair, es ist nicht fair!“ wurde zum Mantra auf meinem Weg. Ein Fuß vor den anderen.

Was auch immer dein Plan ist Universum, du hast mir in einem ohnehin schon nicht einfachen Jahr auch noch das genommen, was mir am Liebsten war. Du hast mir nicht einmal dieses kleine bisschen Freude vergönnt. Nein, ganz im Gegenteil! Du hast mir das Liebste auf die grausamste und unbarmherzigste Art und Weise genommen, die es gibt. Nicht einmal in meinen Albträumen hätte sich mein Unbewusstes so etwas ersonnen! Nicht einmal meinem schlimmsten Feind hätte ich so etwas gewünscht! Nur du, du scheiß Universum, du konntest mir auch das nicht erpsaren. Verdammt warum? Nein. Es macht keinen Sinn. Es ist nicht fair. Fick dich!

Und während ich tränenüberströmt einen Fuß vor den anderen setzte, kaum noch setzen konnte und trotzdem weiter ging, seufzten die Berggeister erleichtert auf. „Na endlich!“ Die jüngeren Berggeister, die noch nicht alles verstanden, so wie die älteren, fragten verwundert nach: „Aber warum? Warum ist das gut, was sie gerade durchmacht?“ Die älteren Berggeister holten die jüngeren zu sich heran und erklärten es ihnen geduldig: „Sie ist endlich am Weg der Trauer. Bis jetzt hat sie alles eingemauert und von sich weg geschoben. Sie hat es nicht gefühlt, was unter der Oberfläche brodelt. Aber die Trauer immer wegzuschieben ist nicht gut. Jetzt ist sie da: die Wut, die Verzweiflung, die Ohnmacht. Der Spiegel aus Eis ist zerbrochen. Das Wasser, das durch die Sprünge im Eis fließt, kann ihn endlich beginnen fortzuspülen, den Schmerz.“ Die jungen Beggeister nickten. Langsam verstanden auch sie die Metapher des Spiegelsees. Neugierig sahen sie der einsamen Wanderin weiter zu, bis ihre Tränen langsam versiegten und sie mit neuer Kraft dem Ziel näher kam. Ein Fuß vor den anderen.

Als ich auf der Almwiese oberhalb der Birnlückenhütte erschöpft ins Gras fiel, kam auch endlich die Sonne ein wenig heraus. Jetzt hatte ich das Ärgste hinter mir, die längste Etappe. Das schwierigste Stück. Der letzte Weg würde mich zur Warnsdorferhütte bringen, wo ich meine letzte Nacht im Gebirge verbringen würde. Ich lag im Gras und sah den Wolken zu. Ich wusste es nicht mit Sicherheit, aber ich spürte es: einen nicht unerheblichen Teil meiner Last hatte ich dort gelassen, am Höhenweg, im Ahrntal. Und wenn ich nun wieder über die Birnlücke hinüber ins Krimmler Achental, nach Österreich ging, so wollte ich die Last nicht wieder mit mir mitnehmen, sondern dort lassen. Hinter der Birnlücke, im andern Tal, hinter mir. Und so schritt ich nach kurzer Rast weiter. So wie ich es mir einredete, in eine neue Zukunft. Ein Fuß vor den anderen.

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