Von der Birnlücke zur Warnsdorferhütte
Der Übergang von der einen Welt in die andere ist immer schwer. Überzugehen bedeutet erinnern. Und die Erinnerung war es, wovor ich davon lief. 3.000 Höhenmeter an einem Tag, 10 Stunden lang.
Pfingsten 2020…
Ich schlurfe rastlos durch meine Wohnung. Du hattest mir versprochen, für mich da zu sein, an meiner Seite zu stehen, das mit mir gemeinsam durchzustehen. Aber ich war allein. Ich war immer allein. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, nicht allein zu sein.
Der erste Ultraschall hat nicht gut ausgesehen, es war zu klein. Ich wusste sofort: „Oje, da stimmt was nicht.“ Aber die Ärztin hörte mir gar nicht zu, nahm sich keine Zeit, ich war ja nur Kassenpatientin. Sie schickte mich mit einem neuen Termin in 2 Wochen wieder weg. 2 Wochen? 2 Wochen Hölle. Und ständig deine Worte in meinem Kopf, die mich nicht schlafen ließen: „Du musst abtreiben. Du zerstörst mein Leben, wenn du nicht abtreibst. Du bist egoistisch, wenn du nicht abtreibst. Wenn du das Kind behältst, dann will ich nix damit zu tun haben, dann hörst und siehst du niewieder was von mir! Das ist doch nur ein Haufen Schlamm da in dir drin, das ist kein Mensch, mach es weg!“
Und dann hat es von selbst aufgehört zu leben, aufgehört zu wachsen, wollte nicht mehr. So als hätte es deine Worte gehört. Meine Zweifel und meine Verzweiflung gespürt. So hätte das alles nicht ablaufen sollen. So hätte das alles nicht sein sollen. Ich hätte es dir nie sagen sollen, es allein durchziehen. Ich konnte allein sein. Ich war immer schon allein, mein ganzes Leben lang. Ich hätte für das Leben in mir kämpfen sollen, für dieses kleine, unschuldige Leben, das plötzlich nicht mehr weiter wachsen wollte. Du hast es umgebracht dieses Leben, mit dem Todesurteil das du mir an den Kopf geballert hast. Und ich hab es auch umgebracht, weil ich nicht stark genug war, um dir den Mittelfinger zu zeigen und dem Arschloch das du bist, den Rücken zu kehren. Und jetzt lief ich hier über 3.000 Höhenmeter über Stock und Stein, alleine, die Schuld auf meinen Schultern, das gebrochene Mutterherz zwischen meinen Rippen, dem Himmel nahe nach deiner kleinen Seele greifen, die mir entflogen ist.
Kein Herzschlag. Missed Abort. Sie geben mir die Tabletten. Zuerst Mifegyne und dann Cytotec. Ich lief auf und ab in meiner Wohnung, auf und ab. Begann alles umzuräumen, Regalinhalte auf dem Boden zu verteilen, Möbel umzuschieben, mich von alten Dingen zu trennen. Die Mifegyne musste ich schon im Krankenhaus schlucken, vor zwei Tagen. Jetzt sollte ich die Cytotec nehmen. Zum Wehen auslösen. Aber du warst nicht da. Ich war allein. Du hattest mir versprochen, mich nicht allein zu lassen. Aber jetzt tatest du so, als würde dich das alles überhaupt nichts angehen, als wärst du überhaupt nicht daran beteiligt gewesen. Arsch!
Dann nehm ich halt das Cytotec, es hilft ja doch nichts … Machs gut kleines Baby. Danke, dass du bei mir warst, in mir warst, Teil von mir warst. Aber du lebst nicht mehr. Deshalb darfst du jetzt gehen. Mir bricht das Herz, aber ich lass dich gehen. Warten.
Bald schon setzten die künstlich herbeigeführten Wehen ein. Aber wo soll ich damit hin? Ich wollte es in Liebe schlafen legen irgendwo. Als der Uterus beginnt, sich zusammenzukrampfen, setze ich mich bei jeder Wehe in die Badewanne. Sofa, Badewanne, Sofa, Badewanne, Sofa, Badewanne. Blut, das zwischen meinen Beinen Richtung Abfluss läuft. Schmerzen. Unbeschreibliche Schmerzen. Aber nicht die Schmerzen der Geburt, an deren Ende ein neues Leben und Freude stehen. Nein. Schmerzen, an deren Ende nur der Tod und der Abschied stehen. Und keine Hoffnung auf neues Leben. Ich bin alleine. Ganz alleine. Und ich hab Angst. So schreckliche Angst. Nur meine Freundin Brigitte ist ab und zu da. Über Whatsapp.
Ich hab keine Ahnung wieviele Stunden vergingen. Netflix, Schmerzen, Krämpfe, Blut. Irgendwann warst du dann da. Plazenta, Dottersack, und das, was du warst. Ein winzig kleines Zellhäufchen, das nicht mehr weiter leben wollte. Hi, du. Alles, alles, alles, tat so weh. Mein Körper, mein Herz, alles. Ich hab dich in den leeren Becher von Bortollotti gelegt, den vom Nachmittag, in Taschentücher gewickelt, reingelegt, und dann hab ich dich tiefgekühlt. Solange solltest du dort schlafen, bis mir einfiel wo ich dich beerdigen soll. Und dann hab ich mich wieder aufs Sofa gelegt, mir einen Gin Tonic gemixt und einen Horrorfilm eingeschaltet. Ich konnte nichts mehr fühlen, wollte nichts mehr fühlen, einfach nur noch auf den Bildschirm starren und vergessen. Es hat wochenlang gedauert, bis ich in der Lage dazu war dir einen Schlafplatz zu suchen. Aber heute schläfst du unter meinem Rosenstock am Balkon. Und ich warte, warte, warte, bis deine Seele irgendwann zu mir zurück kommt. Bis deine Seele mir vergibt, dass ich nicht mehr für dich gekämpft habe. Bis deine Seele wieder Vertrauen zu mir hat.
Und weg damit. Über den Gebirgskamm drüber und weg damit. Einatmen. Ausatmen.
Als ich den Übergang hinter mir hatte und die Last und die Trauer symbolisch von mir weg in das fremde Tal geschickt hatte, da veränderte sich auch die Stimmung auf dem Weg. Die Berggeister feierten die Reinigung meiner Seele, pusteten in die Wolken aus Leibeskräften, bis schließlich die Sonne sich zu mir gesellte und mir einen Blick bot, der lohnender und heilender nicht hätte sein können.
Vor mir türmte sich ein Gletscher auf, der Maurer-Kees, in all seiner weißen Pracht, sich majestätisch abzeichnend vor dem strahlend blauen Himmel. Neben dem Pfad vor meinen Füßen erstreckten sich satte grüne Bergwiesen, die durchzogen waren von Blumen in den verschiedensten Formen und Farben. Es ertönten schrille Pfiffe und in der Ferne sah ich, wie die Murmeltiere vor mir in ihre Bauten flüchteten, zu laut die erschöpften Schritte meiner Bergschuhe, zu klappernd der Atem. Zwischen Kühen und deren Glockengeläut fand ich vierblättrigen Klee. Meine Beine wollten kaum noch, aber ich setzte einen Fuß vor den anderen. Und da war sie dann auch: die Warnsdorfer Hütte! So gut geschlafen wie in dieser Nacht hatte ich davor schon lange nicht mehr … und viele neue Türen taten sich auf. Türen, die mir zeigten, dass ich auf dem richtigen Weg war. Es war geschafft, ich hatte Abschied genommen. Nun musste ich nur noch Vergebung finden. Das wurde noch einmal ein sehr langer und beschwerlicher Weg. Aber das ist eine andere Geschichte, und die soll ein andermal erzählt werden…