Vom Krimmler Tauernhaus (1.631m) durchs Rainbachtal zur Richterhütte (2.374m)
… Mist! Ich hab zu lange geschlafen! Der Wecker hat geklingelt, aber ich hab ihn weg gedrückt. Mein erschöpfter Kopf wollte noch nicht auf. Und jetzt ist ist mein ganzer Zeitplan kaputt. Schon zweifelte ich an meinem Vorhaben. Mein ganzer Körper fühlte sich an wie Blei. Jede Faser durchzogen von Schmerzen für die es keine passenden Worte gab. Und in der Mitte davon, ein Herz, das mit jedem Schlag wie ein tonnenschweres Gewicht nach unten zog. Gravitation. Sollte ich die Tour vielleicht doch wieder absagen?
Irgendwie hab ich es dann doch geschafft. Gepackt, aufgeräumt, mich von den Hausgöttinnen verabschiedet. ‚Gebt gut acht auf mein Heim, auf die Pflanzen am Balkon, auf meinen Zufluchtsort vor der Welt. Wenn es sein soll, dann komm ich wohlbehalten wieder.‘
Die Fahrt wurde zum Wettlauf gegen die Zeit. Hier eine Baustelle, dort ein Stau, vor sich hin trödelnde Urlauber, ländlich-gemächliche Traktoren … TICK! TACK! Verdammt … ich hab zu lang geschlafen! Mein müder Kopf. Die Bleigewichte meiner Gedanken, die jede meiner Unternehmungen zu einem Kraftakt machten. TICK! TACK!
Nach viel Fluchen und Kamikaze-Überholmanövern dann endlich: 16:05, Krimml, Parkplatz 3. Um 16:15 fährt das Tauerntaxi los. Der Fahrer hat zum Glück auf mich gewartet. Gerade noch geschafft! Hab ich was vergessen? Egal. Jetzt ist es ohnehin zu spät. Ab jetzt gibt es nur noch den Weg und mich und mein erstes Ziel: die Richterhütte!
Vom Krimmler Tauernhaus geht der Weg gleich einmal steil hinauf durch den Wald ins Rainbachtal. Die Luft ist kühl und feucht, dicke Wolken hängen zwischen den Bergspitzen. Ich bin alleine. Mutterseelen alleine. Hier gibt es nur noch den Wind, das Rauschen des Rainbachs, und die Erinnerungen, die neben meinem Rucksack voll mit Ausrüstung und Proviant die schwerste Last auf meinen Schultern sind. Ein Fuß vor den anderen. Im Gehen wird langsam alles ruhig. Mein Kopf hört langsam auf damit diese ständigen Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt. Er wird genauso still wie das Hochtal vor mir, von dessen grünem, saftigen Talboden die felsigen Bergspitzen hochragen.
Hier liegt noch Schnee auf den Gipfeln. Es gibt nichts, außer die Allmacht der Natur, die uns alle daran erinnert, wie klein und unbedeutend wir in Wahrheit sind. All die Fragen in meinem Kopf verlieren an Bedeutung. Der Wind weht sie fort, hinauf zu den Graten, wo sie im Vorbeifliegen von den Berggeistern spöttisch beäugt und mit lautem Kichern weitergeschickt werden. „So so!“, murmeln die Geister. „Du hast also noch die Illusion, deine Traurigkeit und Trauer wären hier heroben von Belang! Hahaha, du bist nun in unserem Reich, hier ist das Heim der Stille und der Meditation. Du hast dein Ego an der Schwelle zu unserer Welt abgegeben, doch dein Kopf haftet noch daran! Na warte, das treiben wir dir gleich einmal aus, diesen Schmafu!“ Und mit diesen Worten pusten die Berggeister mit vereinten Kräften in die Wolken.
Es beginnt zu regnen, erst leicht, doch bald prasseln die Tropfen immer heftiger auf meine Kapuze. Ich beschleunige meinen Schritt, schneller und schneller, der Kälte und Nässe zum Trotz. Auch im letzten felsigen Anstieg vor der Hütte behalte ich mein Tempo bei. Ein Fuß vor den anderen. Die nassen Steinplatten hinauf, das Ziel vor Augen. Ich bin klatschnass, als ich dort ankomme. Die Hüttenwirtin hat noch ein Bergsteigeressen für mich aufgehoben. Bevor ich mich in die Stube zu den anderen setze, wasche ich mich mit dem kalten Wasser aus der Leitung. Hier gibt es nur Gletscherwasser. Ich frage die Hüttenwirtin noch einmal nach der Tour, die ich geplant habe: „Du konsch scho über den Höhenweg und die Birnluckn zur Warnsdorferhütte gehn, oba es isch a weita Hatscha und du bisch aloa. Alternativ konsch durchs Windbachtal und des Achental zur Hittn, des isch nit gonz so long zan gea. Überlegsch da holt.“
Nach dem Essen und dem Zirbenschnaps zieh ich mir im Lager auf dem Dachboden den Schlafsack über die Nase. Doch der Schlaf will nicht kommen. Ich brauche einen schönen Gedanken, um einschlafen zu können. Wo sind alle meine schönen Gedanken hin? Es gibt nichts mehr worauf ich hoffe, was ich wünsche, oder wovon ich träumen will. Ich suche jeden Winkel meines Kopfes ab. Schließlich geb ich es auf und lausche nur noch den Regentropfen, die sanft auf das Dach der Hütte prasseln. „Ich habs geschafft! Ich bin wieder hier!“ Mit diesen Worten in meinem Kopf schlafe ich dann endlich ein und tauche in ein Reich aus wirren Träumen.